Ich gehe mit Nastja und Phillip zum Strand. Es ist heiß, keine Wolke am Himmel, das Meer ist ruhig. Ein älteres italienisches Pärchen sitzt in ihren Strandstühlen in der prallen Sonne. Wir breiten unsere Handtücher aus, stechen den Schirm in den Sand und krabbeln in den Schatten. Phillip schlägt sein Buch auf, Nastja zieht sich um. Ich nehme etwas von, dem trockenen Sand in meine Faust und sehe zu, wie er durch meine Finger rieselt. Ich wühle etwas mehr Sand auf, um zu schauen, wie tief die Schicht weißen Sands geht. Aber ich kann nicht tief genug graben, ohne, dass sich das Loch mit dem feinen Sand an den Rändern von selbst wieder auffüllt. Also schaffe ich mit meinen Unterarmen großflächig Sand beiseite, um in der Mitte buddeln zu können. Die weiße Schicht ist tief, ich kann die gestreckte Hand in das Loch stecken, ohne feuchten Sand zu berühren. Ich grabe weiter. Und weiter. Ich beschließe, ein tiefes Loch zu graben. Es soll mindestens so tief sein, dass ich aufrecht drin stehen kann und wenigstens ebenso breit. Ich buddele mit den Händen, schiebe den Aushub beiseite, buddle weiter. Die Finger schürfen den nassen Sand auf, ohne Schaufel wird das nichts. Ich gehe zu einem Spielzeugladen, um eine Plastikschaufel mit Holzstiel zu kaufen.
Torvaianica ist ein typisch italienisches Nest, das im Zuge korrupter Investitionsvorgänge in den 60er Jahren vollständig aus dem Boden gestampft wurde. Es besteht aus zwei größeren Hauptstraßen, die parallel zur Mittelmeerküste verlaufen und durch kleinere Gassen miteinander verbunden sind. Die aus hellem Ziegel gebauten Häuser ähneln sich so sehr, dass man in den ersten Tagen leicht die Orientierung verliert. Es ist nicht ganz klar, was die Menschen hier treiben. Das Tourismusgeschäft läuft nur mäßig, es gibt ein paar Eisdielen und Pizzaläden, ein wenig Fischerei. Zwei Kilometer von hier im Landesinneren befindet sich ein Militärflughafen. Regelmäßig fegen Düsenjets mit scharfem Rauschen am Himmel vorbei. Es riecht nach heißem Müll, vor den Spielzeuggeschäften hängen bunte Gummibälle in den Netzen. Ein Junge mit einer roten Mütze schießt einen Ball gegen eine Mauer.
Als ich zum Loch zurückkehre, ist der aufgewühlte Sand wieder getrocknet. Die Schicht ist bereits zwei Finger tief und rieselt in das Loch hinein. Egal wie tief dieses Loch heute wird, morgen hat es sich von selbst wieder eingeebnet. Phillip sagt, er habe beim Spazieren ein paar Kids gesehen, die ein ziemlich großes Loch gebuddelt haben. Ich solle mir das mal anschauen. Also drehe ich eine Runde am Ufer entlang, vorbei an einem mageren Kokosnussverkäufer und da sehe ich die Kids. Ihr Loch hat ca. eineinhalb Meter Durchmesser, ist etwa knietief und zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Die Kids baden darin wie in einem Whirlpool. Nicht übel, muss ich schon sagen. Allerdings haben sie einen Fehler gemacht: Sie haben zu nah am Ufer gegraben. Von dort aus füllt sich das Loch sofort mit Wasser und man kann nicht tief graben, weil das Wasser den Sand immer wieder verteilt. Sie waren fleißig, aber haben ohne Verstand gearbeitet. Ich gehe zurück und fange weiter oben von vorne an. Ich steche mit der Schaufel in den Sand und bin erregt von der Leichtigkeit, mit der ich den Staub in den Wind fege. Nastja springt ins Wasser, Phillip liest. Es ist ein schöner Anblick, der Aushub um das Loch. Ich freue mich noch mehr, wenn ich sehe, wie tief es geworden ist. Ich lege Sedimente frei, Lutscherstile, Muscheln, Pfirsichkerne.
Irgendwann ist das Loch so tief, dass Kinder auf einen Zaun klettern um es von oben herab zu bestaunen. Sie lassen weißen Sand an der steilen Wand ins Loch hineinrieseln, betrachten es von allen Seiten, italienische Ausrufe des Staunens. Sie sprechen mich an, aber ich verstehe sie nicht. Es kommen immer mehr Kinder. Eines mit einer roten Mütze fragt „Can I go in?“ und ich sage „No.“ Zwei mal fällt ein regenbogenbunter Volleyball hinein und ich schleudere ihn so weit hinaus, wie ich kann. Die Kids machen eine ganz schöne Unruhe oben, es gefällt mir nicht, wenn sie Sand in das Loch hineinwerfen. Ich bin kurz davor, wild mit der Schaufel herumzufuchteln, da fragt der mit der roten Mütze erneut „Excuse me sir, can I go in?“ und wieder sage ich „No.“ Eine Weile geht das weiter so, dann gehen die ersten. Ich bin wieder alleine. Vom Grund aus habe ich eine Kuhle schräg in den Sand hineingegraben. Sie ist so groß, dass man sich hineinlegen kann und ich mache meinen Körper ganz klein. Ein seltsames Gefühl, dort drinnen zu liegen. Es ist kühl, dunkel und leise. Ich denke an ein Bild, dass ich mal im Wartezimmer einer Arztpraxis gesehen habe. Es zeigte den Querschnitt eines Kaninchenbaus mit seinem verzweigten Gängesystem. Die comichaft gezeichneten Kaninchen sausten energetisch der lachenden Sonne entgegen. Nur ganz unten, in der untersten Kammer, saß ein einzelnes Kaninchen. Es blickte fragend nach oben, unfähig, sich für einen der vielen Gänge zu entscheiden. Es saß dort unten fest, verlassen von denen, die dem Sonnenlicht entgegenhüpfen. Das Bild war in diesem furchtbaren, sehr deutschen Comic-Stil gezeichnet war, den man oft auf Kalendern oder in TV-Zeitschriften sieht. Ich fühle mich weit weg von der brennenden Sonne, dem spritzenden Meerwasser, den Kindern und alten Männern mit ihren ledrig verbrannten Kugelbäuchen. Nur ich, zwischen Tonnen von nassem Sand, tief genug, um unter ihm zu verschwinden. Ein Düsenjet faucht am Himmel vorbei. Ich steige aus der Kuhle hinaus und höhle sie von innen aus. Dann klettere ich aus dem Loch und stampfe mit den Füßen auf dem Sand, der über der Kuhle liegt. Der Sand bricht ein, das Loch verliert um 30 cm an Tiefe. Das ist ein kleiner Rückstoß und ich versuche ihn schaufelnd wieder aufzuholen. Die Plastikschaufel bekommt weiße Knicke an der Stelle, an der sie am Stiel befästigt ist. Bald muss ich wieder mit den Händen ran.
Nastja schaut in mein Loch. Ich schippe ihr versehentlich eine Ladung Sand gegen die Brust.
„Hey, kommst du mit ins Wasser?“
„Nein, ich will das hier noch vergrößern. Das dauert noch.“
Man kann nicht einfach so am Strand liegen oder ins Wasser gehen. Also ich kann das nicht. Heute grabe ich ein tiefes Loch. Morgen baue ich eine Pyramide. Übermorgen werde ich ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem in den Strand graben. Ich grabe weiter, dann zeigt sich auf dem Grund eine wässrige Sandschicht, die sofort wieder versickert. Wasser! Ich schaufle so schnell ich kann, der Sand ist deutlich schwerer, dann gelingt es mir, eine halbwegs stabile Pfütze freizulegen. Ich tauche die Finger in das Nass, nehme etwas heraus, verreibe es wie ein Goldgräber auf der Handfläche. Ich will das Loch vergrößern, aber es gelingt mir nicht. Die Nässe schwemmt den Sand von den Rändern in die Pfütze hinein, die sich dadurch wieder verschließt. Ich schaufel und schaufel, aber ich schaffe es nicht, den Grund mit Wasser zu füllen. Dann bricht die Schaufel am Stiel ab. Die Füße versinken im Schlamm, ich stelle fest, dass ich mein Loch nicht mehr tiefer graben kann.
Ich richte mich auf, um die pieksenden Sandkörner von meinem Körper zu streichen. Auf Augenhöhe kommt ein handbreites Insekt aus der Wand gekrochen. Es sieht ein bisschen aus wie eine Heuschrecke, nur mit sehr kräftigen Schaufelhänden. Es fällt auf den Grund, dreht sich wieder in eine aufrechte Position und gräbt sich mühelos in den nassen Sand hinein. Ich beneide dieses Tierchen um diesen anatomischen Vorzug und bedaure wundgescheuerten Hände.
Ich grabe und grabe. Das Loch wird breiter, aber es verliert dadurch automatisch wieder an Tiefe. Der Boden muss nass bleiben, wird er trocken, ist das schlecht für mein Loch. Phillip schaut von oben hinein und reicht mir eine Flasche Wasser.
„Wir wollen bald gehen. Es wird kalt.“
„Ich will das hier noch fertig machen. Geht ohne mich.“
Phillip zuckt mit den Schultern und verschwindet.
Die Sonne muss bereits untergegangen sein, ihr Leuchten deutet sich am Rand des Lochs noch an. Ich spüre einen Stein an der Schulter abprallen und schaue hoch. Da sitzt der Junge mit der roten Mütze, der mich gefragt hat, ob er ins Loch kommen könne. Er lacht und wird von einem anderen Jungen mit dem Ellbogen in die Rippen gestoßen. Es sind viele Kinder gekommen, versammeln sich um das Loch, lungern herum, schieben provozierend mit ihren Füßen Sand hinein. Dann hebt der mit der roten Mütze einen hellen Ziegelstein mit beiden Armen in die Luft und schleudert ihn auf mich herab. Ich hüpfe zur Seite und der Stein fällt mit einer Ecke auf den Fuß. Fluchend nehme ich den Stein und werfe ihn hoch auf die Kids, die ihm lachend ausweichen. Sie versammeln sich wieder und nun werfen alle Kids mit Steinchen und Bierdeckeln und Glasflaschen auf mich. Ich will an der Wand hochklettern, muss mir aber erst mal Einkerbungen für Hände und Füße graben. Ein Stein trifft mich hart am Ohr, schrecklicher Schmerz, ich fasse es an, an den Fingern etwas Blut. Ich schaffe es gerade so, beim ersten Anlauf aus dem Loch herauszuklettern, die Kids bewerfen mich ununterbrochen. Ich renne verängstigt in Badhehose durch die Gassen Torvaianicas, verlaufe mich und komme nach vielen Irrwegen zuhause an.
Am nächsten Morgen gehe ich alleine an den Strand. Dort, wo gestern mein Loch war, ist nur noch eine angedeutete Vertiefung. Ich setze mich hinein, schaue mich kurz um und zeichne mit dem Zeigefinger den Grundriss einer Pyramide in den Sand.